Lufthansa 8991
Sie fiel mir sofort auf, als ich sie das erste Mal bediente.
Eine hagere junge Frau um die 26, eine rothaarige Schönheit und doch sprachen ihre sorgenvollen Augen Bände.
Es muss so gegen 21:30 gewesen sein, als der Verkehr auf dem Stuttgarter Flughafen allmählich nachließ und das Vorfeld sich leerte.
Um diese Zeit begannen immer die ruhigen letzten zwei Stunden meiner Schicht (wofür ich meinen neuen Job am Flughafen liebte) und in der Regel war unser Café dann immer ziemlich leer, bis auf wenige Geschäftsleute, die durch die riesigen Glasscheiben in die Nacht stierten.
SIE saß dort nun seit geschlagenen zwei Stunden alleine an einem Tisch für Zwei und starrte unablässig zu den Runways hinüber. Nur ab und zu ließ sie ihren Blick zu mir hinüberstreifen, um mir zu deuten, dass sie noch etwas bestellen möchte – vermutlich einen Kaffee, schwarz wie die Nacht (In den letzten zwei Stunden trank sie vier Tassen Kaffee, wirkte aber keinesfalls aufgedreht – im Gegenteil – sie schien erfüllt von stiller Sorge, wenn ich das so beurteilen kann).
Gegen 22 Uhr hatte ich nichts mehr zu tun und setzte mich zu ihr. Ich weiß noch ganz genau, dass sie sich mit einem Blick zu mir umdrehte, der sagte: „Natürlich willst du wissen, was ich hier so lange mache, und ich will es dir gerne erzählen, wenn du etwas Zeit hast…“
In den 5 Jahren, die ich schon in Bars gearbeitet habe, habe ich eine erstaunliche Menschenkenntnis entwickelt; meine besten Freundinnen behaupten immer, ich wüsste, was jemand sagt, noch bevor er den Mund aufmacht – ich könnte aus den Augen lesen, oder irgendetwas in der Art.
Jedenfalls fragte ich sie und bemühte mich, nicht im Geringsten aufdringlich zu wirken.
Sie schaute verlegen auf die Uhr und sagte in einem sehr leisen und geheimnisvollen Tonfall (so kam es mir zumindest vor) : „Lufthansa 8991, aus New York, mein Freund fliegt diese Maschine jeden Freitag…und…wissen Sie…ich kann es jedes Mal, wenn er nach seiner 4-tägigen Schicht zurückkommt, nicht erwarten, ihn zu sehen, deswegen fahre ich meistens, nach der Arbeit hierher, um ihn abzuholen...“
Ich nickte verständnisvoll, obwohl ich mir so eine Fernbeziehung auf Raten nicht wirklich vorstellen konnte. Ich bot ihr einen weiteren Kaffee auf’s Haus an, doch sie lehnte dankend ab und zeigte mit ihrem Finger in Richtung Landebahn 25, über der genau in diesem Moment zwei helle Nebelscheinwerfer durch den Nebel stoben und eine ziemlich große Maschine zum Vorschein kam.
Der Vogel setzte sanft auf und kam etwa auf der Hälfte der Landebahn zum Stehen. Ich erkannte das Lufthansa-Logo auf der Heckflosse und mir war klar, wohin meine ungewöhnliche Gesprächspartnerin wollte. Wir verabschiedeten uns, sie zahlte an der Kasse und verschwand genauso lautlos und unscheinbar, wie sie gekommen war…
Zwei Jahre ging das nun so. Jeden Freitagabend war sie die letzte, die spätabends im Red Baron ihren Kaffee trank. Wir redeten nicht viel miteinander, doch sie bestellte meistens bei mir. Auch ihren Freund habe ich nie gesehen, dafür jedoch immer sein Flugzeug, das jeden Freitagabend erstaunlich sanft auf der 25 herunterkam.
An jenem Freitag, an dem die Welt aufhörte sich zu drehen, hing kein Nebel über Stuttgart, der die Nacht sonst immer durch leichte Lichtreflexion erhellte. Der Himmel über rwy 25 war stockdüster. Und es lag etwas in der Luft. Ein Wetterexperte würde es als ‚die Ruhe vor dem Tornado’ bezeichnen.
Um 22 Uhr und 5 Minuten ließ meine ungewöhnliche Bekanntschaft die Kaffeetasse fallen – sie zerbrach.
13 Längengrade weiter westlich und 6000 Meter über dem Meeresspiegel versuchte Cristopher Hahn sich an seinen Religionsunterricht zu erinnern, doch er brachte nur wenige Bruchstücke des Vaterunser heraus.
Sein Co-Pilot blätterte wie verrückt im Handbuch für Notfälle, während Lufthansa 8991 außerplanmäßig an Höhe verlor. Das letzte, was Cristopher Hahn vor Augen hatte, war ein Foto der bildhübschen Susann, die wie jeden Freitag auf ihn warten würde; jedoch diesmal vergebens. Das letzte, was der völlig überforderte Fluglotse irgendwo nahe der Französischen Atlantikküste hörte, war : „Lufthansa 8991 – descending through FL180 , we’re not able to pull up , Squawk 7700, Mayday!“
Während ich die Scherben der Kaffeetasse zusammenkehrte, zerschellte eine Boeing 767 mit der Flugnummer LH8991 auf einem Kornfeld in der Bretagne.
Und mit einem Schlag war alles anders. Die bildhübsche junge Fraue wurde entgegen ihrer Gewohnheit unruhig; sie entschuldigte sich für das Missgeschick und verabschiedete sich. Ich sah nur noch, dass sie auf den letzten Metern bis zur Rolltreppe rannte, dann verschwand sie.
Auf dem Heimweg von der Arbeit hörte ich im Autoradio eine Meldung, die mir einen Schlag in die Magengegend versetzte. Ich musste rechts heranfahren, um mich wieder beherrschen zu können. Das war nicht möglich! Lass das nicht LH8991 gewesen sein, was dort in Frankreich zerschmettert ist! Doch nach einer schlaflosen Nacht erreichte mich am nächsten Morgen die grausame Nachricht, dass LH8991 tatsächlich nie angekommen ist.
Die rothaarige Schönheit habe ich seit dem lange nicht mehr gesehen.
Ich hätte sie fast vergesse